Erinnerung an Indien

Beim Besuch der Ausstellung „Facing India“ im Kunstmuseum Wolfsburg werden Indien-Erfahrungen wieder lebendig. Heute zeigen indische Künstlerinnen ihre Sicht des Landes. Damals führte mich der Beruf 18 Monate lang mit Unterbrechungen nach Indien: um Geschäftsmöglichkeiten zu prüfen und schließlich eine Tochtergesellschaft mit aufzubauen.

Nach der Arbeit wollte ich wenigstens einmal pro Woche Judo trainieren und fand bei meiner Internetsuche den Bombay Judo Club. Ein indischer Arbeitskollege übernahm die Nachforschungen vor Ort: Erreichbarkeit, Trainingszeiten, Erwachsenentraining, Offenheit für Gäste etc.. Alles schön, bis auf die Zurückhaltung meines Kollegen bezüglich des Dojo. Indern fällt ein klares „Nein“ schwer. Zurückhaltung lässt dann schon ein „besser nicht“ vermuten.

Ich hab’s trotzdem versucht. Zunächst eine Stunde quer durch Mumbai, stop and go, voller drastischer Kontraste (Leben unter Planen auf dem Bürgersteig – Leben in luxuriösen Hochhäusern). Fahrt von der Dämmerung in die Nacht hinein. Die Rampe hoch an Sicherheitsleuten vorbei zu einem Komplex in die Jahre gekommener Hochhäuser. Aber wo soll hier das Dojo sein? Der Fahrer hilft mir, den richtigen Eingang zu finden, Parterre, rechts. Ein Appartement wie viele andere auch. Flur, ein Zimmer Herrenumkleide, ein Zimmer Damenumkleide, am Ende der größte Raum, voll mit Tatami ausgelegt, Wände hüfthoch gepolstert, dahinter noch ein Büro. Die Luft in der Hafenstadt Mumbai ist stickig und schwül. Aber das Appartement hat keine Klimaanlage, dafür Fenster zum Innenhof hin. Gegenüber wird bei offenem Fenster gekocht und der Geruch eines leckeren indischen Abendessens liegt in der Luft.

Manohar Bangera und sein Bruder besitzen ein Unternehmen der Autozulieferindustrie. Sie haben den Bombay Judo Club, School of Self Defense, vor Jahren gegründet, besitzen Trainer- und Kampfrichter-Lizenz und fördern den Judosport großzügig, denn die Mitgliedsbeiträge decken nur einen Teil der Kosten des Clubs.





Zu den Trainigseinheiten kommen so 15 Judoka: weiblich, männlich, jugendlich und erwachsen. Wir wärmen uns beim Laufen auf, die Gymnastik ist auf Geschmeidigkeit ausgerichtet. Fallübungen machen wir längs zum Raum, quer ist der Platz knapp, da bremst die gegenüberliegende Wand. Dann Techniktraining und einige Randoris. Partnerwechsel unter den Männern und unter den Frauen. Selten trainieren Männer und Frauen zusammen. Das Verhältnis von Männern zu Frauen ist in der indischen Gesellschaft tendenziell von Dominanz geprägt. Unsere deutsche Presse berichtet immer wieder von verstoßenen Ehefrauen, die von ihren Ehemännern angezündet wurden und von einem Rechtsystem, das Vergewaltiger nur zögerlich zur Verantwortung zieht. Dagegen ist der Umgang auf der Tatami höflich, rücksichtsvoll, engagiert. Und jeder bemüht sich, in Längsrichtung zu werfen, quer… na ja, das hatten wir schon.

Gemessen an der Bevölkerungszahl ist Indien nach China die zweitgrößte Nation in Asien. Daher schmerzt es die indischen Judoka, dass sie bei internationalen Vergleichen immer nur die Nummer vier, nach China, Japan, Süd Korea, sind. Um das zu ändern, ist ein japanischer Polizist und Judotrainer im Rahmen eines Austauschprogramms für ein Jahr nach Indien engagiert worden und trainiert auch uns. Nach dem Training, so gegen 22.00 Uhr, gehen wir in ein Bistro nebenan. Wir schlängeln uns an Bauarbeitern vorbei, die in den Obergeschossen Büros umbauen und dafür Material nach oben tragen. Als wir später nach Hause aufbrechen, werkeln sie immer noch. Die indischen Judoka fragen den japanischen Trainer nach einer Freundin. Verlegenes Lächeln, Freundin Fehlanzeige. Intime Beziehungen von Indern zu Ausländern sind selten, zu stark wirken da die traditionellen indischen Prägungen.

An einem anderen Abend treffe ich einen erfolgreichen indischen Judoka und seine Frau. Er gibt Sportunterricht an der amerikanischen Schule. Der Sohn studiert in Barcelona. Willkommene Gelegenheit, das Thema interkulturelle Ehe, geschlossene indische Gesellschaft noch einmal anzusprechen. Ich bekomme einen engagierten Vortrag über die internationale Offenheit der Inder. Na, dann wäre ja nichts gegen eine spanische Freundin einzuwenden? Nein, so sei das nicht gemeint, das können sich meine Gesprächspartner gar nicht vorstellen. Ich weiß, dass nach wie vor ein großer Teil indischer Ehen von den Eltern arrangiert wird. Die verantwortungsbewussten Eltern würden dabei auf größtmögliche Übereinstimmung achten (oder sind es doch eher wirtschaftliche Überlegungen?). Angesichts von an die 50 % geschiedener Ehen im Westen sei der Beweis der Überlegenheit der dortigen freien Partnerwahl ja wohl nicht erbracht.

Szenenwechsel. Weihnachtsmarkt zu Hause in Deutschland. Gelegenheit, mich mit deutschen Süßigkeiten für indische Gastfreundschaft zu bedanken. Eine Woche später fliege ich mit 15 Tüten gebrannter Mandeln nach Mumbai. Ich treffe – Überraschung – indischen Geschmack.

In den anschließenden Monaten werde ich auch mal gebeten, das Training zu übernehmen. Dabei freue ich mich über das entgegengebrachte Interesse, Engagement. Schade, dass die Judoerfahrung mit dem Abschluß des beruflichen Projekts zu Ende geht. Ich fliege mit einem guten Gefühl zurück und drücke dem Judo in Indien die Daumen bei der internationalen Aufholjagd.
(Günther)

Bei Fehlern, Fragen, Anregungen etc.:    info@guertelball.de Datenschutzerklärung
Letzte Änderung: 19.06.2018