Kubanischer Cocktail 1997

Fidel Castro wird im August 70 Jahre alt, die Gebeine des in Kuba allgegenwärtigen „geliebten Kommandanten Che Guevara" werden 1997 endlich in der Heimaterde beigesetzt, im August findet das 14. Welt-Jugend- und Studentenfestival in Havanna statt; außerdem berichten Freunde von fröhlichen Menschen sowie schönen Stränden und Hotels. Das sind doch Gründe genug für eine Reise nach Kuba.

Auf dem Flug lese ich über Journalisten, die alle möglichen Erschwernisse auf sich nehmen, nur um ein Interview mit Fidel Castro zu bekommen. Der kolumbianische Literaturnobelpreisträger Gabriel Garcia Márquez beklagt dabei, daß aber viele sich nicht die Mühe machen unmittelbar selbst herauszufinden, wie die Realität im heutigen Kuba aussieht, was die wirklichen Träume und Ärgernisse der Leute sind. So werde den Kubanern auf der Straße eine Gelegenheit genommen, sich der Welt gegenüber auszusprechen (Die Zeit, magazin, Nr. 31, 25.7.1997).

Nun, mein Interesse an der Realität im heutigen Kuba ist groß, wenn auch nicht aus der Sicht des Journalisten, sondern der des Touristen und Judosportlers.

Vor ein paar Monaten schon hatte ich beim kubanischen Judoverband per Fax angefragt, ob Gelegenheit zum Training bestünde. Die Antwort fiel ermutigend aus, wegen Details wurde ich an das Sportamt der Stadt Varadero, meinem Urlaubsort, verwiesen. So kam also zunächst einmal der Judoanzug mit ins Gepäck.

Die kubanische Paßkontrolle erfolgt mit Akribie, vor den Schaltern bilden sich Schlangen. Zeit für eine Gruppe deutscher Mitreisender, die roten Che Guevara Fahnen zu entrollen und sich auf die Teilnahme am 14. Welt-Jugend- und Studentenfestival in Havanna einzustimmen. Diese Festivals werden seit 1947 fast ausschließlich von sozialistischen Ländern veranstaltet und ziehen zwischen 20.000 und 30.000 Teilnehmer an. Nur das letzte Treffen in Nordkorea 1989 mißlang

Da bietet Kuba mit seinem Cocktail aus günstigen Flugtarifen, politischen Foren und schönen Stränden ein attraktiveres Ziel und zieht trotz Zusammenbruch des Ostblocks immerhin 12.000 Teilnehmer an. Einige von ihnen werden später in Bussen mit Polizei-Eskorte und heulenden Sirenen einen Tag an den Strand von Varadero kommen. Vielleicht tragen sie die Botschaft von Kuba als aufstrebendem touristischem Ziel in ihre Heimatländer.

Nach Paß- und Zollkontrolle bescheren die ersten Schritte aus dem Flughafengebäude heraus Erleichterung: Statt des kollektiven Überfalls durch Kofferträger, Taxifahrer und Geldwechsler findet hier nur das Gespräch mit einem Vertreter des Reiseveranstalters statt und der richtige Bus zum Hotel ist leicht gefunden.

An einem der nächsten Tage erkundige ich mich im Hotel nach dem Sportamt der Stadt Varadero, um dort Adressen für ein Judotraining zu erhalten. Das Sportamt anrufen, nach Öffnungszeiten fragen? Sinnlos. Auf Kuba sind Telefone eine Rarität. Stattdessen erhalte ich gleich die Adresse der städtischen Sporthalle.

(Für Großansicht die Bilder anklicken.)

Die städtische Sporthalle ist ein ebenerdiger Holzbau mit gefliestem Boden und mit Tonziegeln gedeckt. An der Vorderseite spendet eine Veranda Schatten. Touristen flanieren auf der Hauptstraße vorbei.

Die eine Hälfte der Halle dient als Übungsraum für Judo und Karate, als Dojo; die andere Hälfte wird von Gewichthebern genutzt. Alle Türen sind weit geöffnet. Nach jedem Satz Übungen an den Gewichten kommt einer der Athleten mit schweißperlenübersäter schwarzer Haut auf die Veranda um Luft zu holen und den Körper zu kühlen. Welch beeindruckender Erfolg läßt sich bei fünf bis sechs Trainingseinheiten pro Woche erzielen!

Wir blättern vorsichtig in einem amerikanischen Fitneßmagazin. Hier sticht uns noch mehr Muskelmasse in die Augen. Aber diese Leute nehmen sicherlich was ein. Solch ein Gedanke ist nichts für meinen kubanischen Gesprächspartner und seine Kollegen; ihre Gesundheit wollen sie nicht riskieren.

Inzwischen ist ein Judotrainer eingetroffen und wir gehen in das Dojo. Wir öffnen die Holzlamellen der schmalen Fenster. In die heiße stickige Luft kommt etwas Bewegung. Auf den Fliesen am Boden sind zwei Rechtecke aus Vierkanthölzern aufgenagelt, jeweils etwa fünf mal sieben Meter. Innerhalb dieser Rechtecke liegen vielleicht fünf Zentimeter hoch Sägespäne, darüber eine Stoffplane, vielfach geflickt und doch schon wieder eingerissen. Große Löcher und verstreute Sägespäne haben die eine Hälfte im letzten Jahr unbrauchbar gemacht. Weiter hinten im Gebäude sind Schlaf-/Umkleideräume und eine Toilette abgetrennt. Wir bleiben unter uns, denn im Juli und August ist Ferienzeit, da kommt kaum jemand zum Training. Wie schon mit den Kraftsportlern finden auch wir schnell in ein gemeinsames Gespräch.

Auf Kuba ist ein gutes Ausbildungssystem etabliert. Nach der Schule erfolgt ein zweijähriger Militärdienst. Danach wurden die Reservisten bis Mitte der 80er Jahre verschiedentlich zu Militäreinsätzen an diversen Brennpunkten der (Dritten) Welt einberufen. Abhängig vom Talent des Einzelnen kann sich dann ein sechsjähriges Studium anschließen, das breiter angelegt ist als bei uns. Vor dem Eintritt in das Erwerbsleben sind erst noch zwei soziale Jahre abzuleisten.

Die Persönlichkeit Che Guevaras hatte einen prägenden Einfluß auf die junge Generation in Kuba. Nicht wegen materieller Anreize, sondern um Idealen von Freiheit und Gerechtigkeit willen waren junge Kubaner bereit, ihr Leben in Zimbabwe, Mozambique, Honduras und vor allen in Angola einzusetzen. Was hat dieser Einsatz den Kubaner gebracht? Der Lebensstandard in Kuba ist heute unter das Niveau Mitte der 80er Jahre gesunken. Zwar gab es auch da schon die Blockade des Landes durch die USA, aber die UdSSR bezahlte damals noch das kubanische Zuckerrohr gut und lieferte preiswertes Erdöl zur Ergänzung zur kubanischen Förderung. Heute profitiert man nicht mehr von der „sozialistischen Solidarität", für das Peso-Gehalt gibt es außer den rationierten Gütern des Grundbedarfs kaum noch etwas zu kaufen. Der US-Dollar dominiert, und um die staatlich dirigierten touristischen Zentren herum wächst die private US-Dollar Schattenwirtschaft.

Wir verabreden uns für ein paar Tage später, um etwas Technik zu trainieren. Doch bevor ich das Dojo ein zweites Mal betrete, werde ich Zeuge einer kontroversen, lautstarken Diskussion über meine Anwesenheit. Die versuchte Invasion 1962, das Plakat an der Tür der Sporthalle (melden Sie der Polizei den Überflug unbekannter Flugzeuge, ungewöhnliche Ernteeinbußen etc.), die Bomben in zwei Hotels von Havanna, ein gesunkenes Schiff, ein abgestürztes kubanisches Flugzeug und verschiedene rechtzeitig entdeckte Attentatsversuche haben Nervosität hinterlassen. Kein Mensch kenne mich, ich könnte dubiose Interessen haben, außerdem seien doch private Kontakte zwischen Kubanern und Touristen verboten.

Ergebnis: keine Chance, die Judomatte zu betreten. Statt dessen ein zweites langes Gespräch auf der Veranda und Aushändigung des Begrüßungsschreibens, das ich vom kubanischen Judoverband erhalten hatte und dessen Bedeutung ich, wie sich herausstellen sollte, unterschätzt hatte.

Bei einem Stadtbummel am nächsten Tag kommen wir wieder an der Sporthalle vorbei und treffen dort einen zweiten Judotrainer, mit Deutschlanderfahrungen aus Freundschaftsbegegnungen in der Ex-DDR. In einer freundschaftlich aufgeschlossenen Atmosphäre erfahre ich, daß das Begrüßungsschreiben des kubanischen Judoverbandes und eine Rückfrage beim „Nationalen Institut für Sport und Freizeit" in den vergangenen 24 Stunden Wunder bewirkten: die kubanischen Partner wurden zu einer (vorurteils-) freien sportlichen Begegnung ermutigt.

Zunächst einmal führte uns eine gemeinsamer Ausflug ins Landesinnere, u. a. zu einem Ort mit einer alten Zuckerrohr- und Papierfabrik. Allgegenwärtige Pferdedroschken dienen hier nicht als Touristenattraktion, sondern als allgemeines Transportmittel für jeweils acht bis zehn Passagiere. Wir fahren mit dem Jeep durch Nebenstraßen in einen Feldweg, folgen einem Trampelpfad durch hohes Gras und stehen vor einer unscheinbaren gemauerten Halle. Im Dämmerlicht bei hoher Temperatur und Luftfeuchtigkeit trainieren Judokas auf einer Judomatte, wie ich sie schon aus Varadero kenne, nur hier ohne offene Löcher. Die Judoanzüge sind verschlissen und nicht mehr alle komplett. Doch das ist von nachrangiger Bedeutung - was zählt ist die Motivation. Und die stimmt, denn aus diesem Dojo gingen mehrere kubanische und panamerikanische Judosieger hervor.

Einige Tage später kommen wir schließlich zum ersten Training in Varadero zusammen. Zu viert. Der Schweiß läuft bereits vor den „Aufwärm-" und Dehnungsübungen. Anschließend Techniken im Stand und am Boden sowie einige BodenRandoris. Wir führen auch Würfe aus, wohlwissend, daß der Partner bis zum Schluß ganz besonders gut kontrolliert werden muß, damit die Hüfte nicht mit ungebremstem Schwung auf die harte Judomatte schlägt. Wegen der Verletzungsgefahr verzichten wir auf ein StandRandori.

Bei einem Gespräch über die deutsche Prüfungsordnung für den Erwerb der Gürtel gefällt die deutsche didaktisch-methodische Aufbereitung. In Kuba läuft das alles etwas anders. Statt unserer acht Abstufungen der Schülergraduierungen kennt man nur fünf. Eine systematische Überprüfung der Technikkenntnisse erfolgt bei Erwerb des gelben Gürtels. Alle weiteren Gürtelfarben werden dann in Abhängigkeit von Wettkampferfolgen verliehen. Denn der für eine bestimmte Region eingesetzte staatliche Judotrainer hat die Aufgabe, Judokas mit Wettkampferfolgen hervorzubringen. Fällt eine Region im überregionalen Vergleich deutlich zurück, so gilt das als Indiz für die mangelnde Leistungsfähigkeit des Judotrainers. Er wird dann angehalten, die jungen Judokas mehr zu fordern und in Zusammenarbeit mit den Schulen neue geeignete Judokas zu identifizieren. Die so ausgewählten neuen Judokas können sich der Wahl nur schwer entziehen. Bei dieser starken, frühen Leistungs- und Wettkampforientierung erscheinen die filigranen deutschen Gürtelabstufungen und Prüfungsanforderungen zwar interessant, haben aber mit dem kubanischen Judoverständnis wenig gemein.

Der lokale Verwaltungsbeamte, dem die städtische Sporthalle untersteht, kommt auf dem Fahrrad vorbei. Er beklagt den derzeitigen Zustand der Sporthalle, aber demnächst werde eine Kegelbahn und ein Restaurant für Touristen angebaut und Umkleideräume und die Toilette dabei gleich mit saniert. Allein eine neue Plane für die Judomatte sei nicht in Sicht. Die gäbe es nur für 120 US $ bar auf die Hand, obwohl sie nicht importiert sondern in Kuba hergestellt wird. Was für Gegensätze: Kuba erwartet 1997 1,7 Mrd. US $ Einnahmen aus dem Tourismus, die u. a. für den Import von allgegenwärtigem italienischem Mineralwasser verwendet werden, aber 120 US $ für den Judosport unter staatlicher Regie sind bislang nicht verfügbar. Der Verwaltungsbeamte will wegen der Plane einen erneuten Vorstoß unternehmen, die Judokas haben aber wenig Hoffnung.

Wir treffen uns noch einige Male zum Training. Ich nehme viele Anregungen mit, mein Respekt vor dem kubanischen Judo wächst. Auf dem gesamten amerikanischen Kontinent sind die Kubaner wohl die Erfolgreichsten. Die weiblichen kubanischen Judokas gehören zur Weltspitze, ihre männlichen Kollegen melden sich an die Weltspitze zurück.

Rolf, ein zweiter deutscher Judoka, besucht dieses Jahr schon zum dritten Mal das Dojo in Varadero. Wir erhalten von den kubanischen Judokas kurz vor unserer Rückreise noch eine gemeinsame Einladung ins Landesinnere. Die Fahrt mit einem „Privat"-Taxi kostet etwa ein Drittel dessen, was ein Taxi mit staatlicher Konzession berechnet hätte, ist aber auch voller kleiner Überraschungen. Zunächst heißt es erst einmal runter von der Hauptstraße, rein in eine Nebenstraße, aussteigen. Ein Kubaner mit Touristen im Privatwagen wäre der Polizei am Kontrollpunkt auf der vor uns liegenden Brücke aufgefallen, er wäre aus dem Verkehr gezogen worden. Also passieren wir die Brücke zu Fuß und steigen dezent in einer Nebenstraße wieder ein. Dann führt uns die Reise auf verschlungenen Wegen jenseits  der großen Fernstraßen mit ihren weiteren Kontrollpunkten zum Ziel. Unter Inkaufnahme der doppelten Reisezeit. Wir erreichen einen kleinen Ort mit der typischen Ortsanlage: Ein verfallender kolonialer Kern von morbider Schönheit.

Drumherum ebenerdige Häuser jüngeren Datums, weiter draußen dann vier- bis fünfstöckige Betonneubauten. Tanks auf den Dächern sorgen für gleichbleibenden Wasserdruck; in der Sonne reflektierendes, aus alten Konservendosen gewonnenes Weißblech dient als Ersatz für Antennen. Die Menschen arbeiten in der Landwirtschaft und der Zuckerrohrverarbeitung.

 

Am Rande des Ortes besuchen wir wieder eine dieser schlichten Hallen, mit einer großen Judomatte aus Vierkanthölzern, Sägespänen und Abdeckplane, diesmal ohne Löcher, und mit einigen Kämpfern beim Training von Aikido.

In den kleine Höfen der schlichten Privathäuser hier auf dem Lande werden ein Schwein und oft auch Hühner gehalten, um die Familie mit etwas Fleisch und Eiern zu versorgen. Familien in den Wohnblocks und ohne priviligierte Verwandtschaft können Fleisch nur bei wenigen Gelegenheiten im Jahr erstehen. Die Fleischerei des Ortes ist leer, bis auf einem Haufen Gehacktem aus Gänsefleisch, gegen US-Dollar versteht sich. Vor diesem Hintergrund wissen wir die Einladung zu schmackhaftem gekochtem Lamm besonders zu schätzen. Das kubanische Bier, den kubanischen Rum und die in Mexiko abgefüllte Coca Cola steuern wir bei, gekauft mit US-Dollar versteht sich.

Die kubanischen Judoka erinnern sich gern an internationale Begegnungen im Ausland. Als Touristen eingereiste Judokas sind gern gesehene Gäste, oft auch mit der Bereitschaft über Mängel im Lande hinwegzuhelfen. Und dann bestehen noch Träume: von einer offiziellen Einladung aus dem Ausland zu einer Freundschaftsbegnung, von einer Reiseerlaubnis und einem Reiseticket des „Natinolen Instituts für Sport und Freizeit" dazu, oder von einem Engagement als Baseballtrainer in Mannheim oder als Judotrainer in Venezuela, wobei von den monatlich 1.200 US $ an das „Nationale Institut für Sport und Freizeit" immerhin 200 US $ direkt an den Trainer gehen.

Das spannende Erlebnis eines kleinen Ausschnitts der kubanischen Realität und kubanischer Träume erfordert Zeit und Geduld, die sich lohnt. Dabei ist Kuba inswischen ein teures Land geworden. Ich nehme dieses Erlebnis mit nach Hause und lasse den Judoanzug in Kuba.

 

(Erschienen in: Polizeistadion Nr. 6 1997; Vereinszeitschrift des PSV Braunschweig; Originalartikel als pdf))

(Günther)

Ein Tipp für die, die Kuba ebenfalls abseits der Touristenpfade erleben möchten: Kuba Individualreise
Bei Fehlern, Fragen, Anregungen etc.:    info@guertelball.de Datenschutzerklärung
Letzte Änderung: 07.06.2018