Ein Hobby-Judoka in Singapur und Sydney

Wir fahren auf einer leicht geschwungenen Straße durch weitläufige Parkanlagen. Hätten wir nicht immer noch 33 Grad Celsius an diesem frühen Märzabend, ich wähnte mich in einem der Vororte Londons mit all den Bäumen, weiten Rasenflächen und drei- bis vierstöckigen Gebäuden. Die Straße führt an einer Kaserne vorbei, einem Gefängnis und verdeckt im Grünen liegenden Wohngebäuden. Hinter einer Kurve steht ein vielleicht 60 Jahre altes Haus, „Singapore Judo Club". Wir sind am Ziel.

Die Dienstreise nach Südost-Asien war schon länger geplant; so hatte ich Zeit, meine Teilnahme an einem Judo-Training zu organisieren. Der Deutsche Judo-Bund gab mir Anschrift und Faxnummer der Singapore Judo Federation. Ein paar Tage später wusste ich: Gäste sind willkommen. Also reservierte ich einem von fünf Abenden vor Ort für das Judo. Einen Abend in der Erwartung, Menschen außerhalb des beruflichen Umfelds kennenzulernen, mit ihnen Spaß beim Training zu haben und vielleicht bei einem Umtrunk danach Land und Leute besser kennzulernen, ihre privaten Freuden und Sorgen.

Im Singapore Judo Club

Nach 20 Stunden Flugzeit vom europäischen Winter in den südost-asiatischen Herbst holt mich ein Kollege am Flughafen ab. Im Hotel bleibt mir Zeit, um zu duschen und die Judotasche zu packen. Mein erster Eindruck unterscheidet sich deutlich vom Klischee: Statt hektischer asiatischer Betriebsamkeit erlebe ich eher ruhiges gepflegtes englisches Provinzleben und wenig Verkehr auf der „falschen" Straßenseite. Die Lizenz für die Fahrzeugzulassung ist genauso teuer wie ein Mittelklassewagen selbst, deshalb können sich nur wenige Menschen ein Auto leisten und deshalb bleibt der Stadt der übliche Verkehrskollaps erspart.

Das Dojo liegt an der Portsdown Road am anderen Ende des Stadtstaates, deshalb fahren wir lieber frühzeitig los, denn auch mein Kollege, der seit Jahren in Singapur lebt, kennt diese Gegend noch nicht. Für ihn ist dies der erste Kontakt mit dem Judo und mit Judoka. Ich freue mich über seine Begeisterung. Wir finden den Weg überraschend schnell, aber noch ist das Dojo verschlossen. Meine innere (deutsche) Uhr zeigt 24 Uhr an, hier ist es jetzt 19 Uhr.

Nach und nach kommen sie alle: Der Präsident des Singapore Judo Club, der Trainer, die Kassiererin, chinesische Judoka, japanische Judoka, europäische Judoka die alle, bis auf mich, die Staatsbürgerschaft Singapurs eint. Das ebenerdige Gebäude war früher Quartier englischer Soldaten, 1980 zog dann der Singapore Judo Club ein. Mit Bohlen und Brettern wurde ein Schwingboden improvisiert, darauf liegen von Wand zu Wand die Judomatten. Ein Nebenraum ist mit Bretterwänden in eine Damen- und in eine Herrenumkleide aufgeteilt.

Der Singapore Judo Club hat 80 Mitglieder, die monatlich 12 Euro Beitrag bezahlen. Die meisten Mitglieder gehören dem Kinder- und Jugendbereich an. Nur ganz wenige sind über 30 Jahre alt. Der Club feierte 1994 sein 40jähriges Bestehen. Der neuerliche Mitgliederanstieg wird in einer Festschrift darauf zurückgeführt, dass immer mehr Menschen die Bedeutung eines körperlich und geistig gesunden Lebensstils erkennen.

Nach dem Randori ins Hawker Center

Wir begrüßen uns einzeln mit Handschlag, fragen nach Namen und Herkunftsland. Zwei weibliche und fünfzehn männliche Judoka vom 8. Kyu bis 2. Dan kommen zum Training unter Anleitung eines Japaners zusammen. Gestern waren auch fünf indonesiche Judoka zu Gast. Wir laufen viel, danach folgen ausgedehnte Dehnungs-, Lockerungsübungen. Kraftübungen wie Liegestütz, Situps etc. finden nicht statt. Fallen wird intensiv in alle Richtungen geübt. Anschließend folgt Judotechnik in endlosen Bahnen-Uchi-komi mit permanentem Partnerwechsel. Dann gehen wir partnerweise zusammen, um spezifische Technikübungen zu vertiefen. Alle sind konzentriert bei der Sache, der Trainer gibt einzelnen Paaren weitere Unterstützung. Den Abschluß bildet eine Reihe von Standrandori und ein Bodenrandori. Nach zwei Stunden Training grüßen wir ab. Flug, Zeit- und Temperaturunterschied sowie das Training selbst haben mich an die Grenzen meiner Kondition geführt, ich habe die Pausen nach meinem Bedarf eingelegt und bin jetzt vollkommen entspannt. Ein tolles Körpergefühl. Im Nebengebäude auf dem Hof finde ich die einzige Dusche, allerdings nur mit kaltem Wasser. Die Gruppe geht auseinander, bis auf vier Judoka.

Mein Kollege und ich werden in ein Hawker Center eingeladen. Das ist eine Ansammlung von Imbiss-Ständen, die südostasiatische Gerichte, Früchte, Getränke im Freien zu günstigen Preisen anbieten. Drum herum sitzen die Gäste unter fest installierten Sonnenschirmen aus Blech, mit ebenfalls fest installierten Tischen und Hockern. Jetzt gegen 22 Uhr herrscht Hochbetrieb. Die Kassiererin des Judo-Clubs fragt in die Runde nach Essens- und Getränkewünschen und nimmt mich zur Bestellung an diversen Imbiss-Ständen mit. Ich soll die Vielfalt des Angebots in Augenschein nehmen und meine Wahl selbst treffen. Wir geben bei jeder Bestellung unsere Tischnummer an. Kurz darauf kommen unterschiedliche Gerichte aus allen Himmelsrichtungen an den Tisch. Aber die Hawker Center unter freiem Himmel haben ihre beste Zeit hinter sich. Junge Menschen entscheiden sich heute eher für die Schnellimbiss-Stuben in den neu errichteten überdachten und klimatisierten Einkaufspassagen.

Der Präsident des Clubs nutzt die Gelegenheit, um im Beisein einer 18jährigen Kämpferin und ihres Freundes von den Problemen der Judoförderung zu erzählen. Im Kodokan werde der Förderung von Gästen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, deshalb habe der Club die junge Kämpferin für vier Monate nach Taiwan geschickt. Dort gäbe es eine gute Betreuung. Aber was für ein Unglück, mit 48 Kilo hin und mit 52 Kilo zurück, damit ging der Vorteil in der Geschwindigkeit verloren. Das tut dem Club mit seinen beschränkten finanziellen Mitteln weh. Auch die ebenfalls anwesende Kassiererin habe viel Jahre gut gekämpft, jetzt sei sie dreißig Jahre alt und immer noch nicht verheiratet. Was habe er alles versucht. In einem bestimmt schon viele Male vorher geübten Ritual erklärt ihm seine Kassiererin ihre qualitativen Vorstellungen vom Mann an ihrer Seite, der passende habe sich eben noch nicht gefunden und auch ohne festen Partner könne sie glücklich sein.

Ich lasse zum Abschied eine Flasche Champagner dort, investiere acht Euro in ein T-Shirt des Singapore Judo Club und fahre mit meinem Kollegen zum Hotel um trotz Zeitverschiebung fest durchzuschlafen bis in den nächsten asiatischen Morgen.

Im New South Wales Judo Club

Am Wochenende fliege ich weiter zu Kollegen nach Sydney. Auch die Judo Federation of Australia hatte meine Fax-Anfrage schnell beantwortet, Gäste seien immer willkommen, aber angesichts Sydneys Größe möge ich doch mal angeben, in welchem Stadtteil ich mich aufhalte, damit dort gezielt ein Club mit Judotraining für Erwachsene herausgesucht werden könne. Mit Hilfe der Kollegen vor Ort fiel die Entscheidung auf „The University of New South Wales Judo Club".

Nachdem um Weihnachten herum die Waldbrände bei Sydney in den deutschen Fernsehberichten Weltuntergang in Australien signalisierten, waren die Sommermonate Januar und Februar die verregnetsten seit Jahren. Jetzt zeigt sich der Herbst in Sydney mit recht konstanten 28 Grad Celsius von seiner besten und trochenen Seite. Bei Fahrten in die Umgebung finden wir endlose Strecken mit verkohlten Bäumen, aber frisches Grün hat sich längst bis auf halbe Höhe wieder hochgearbeitet. Wohlgemerkt in nur zwei Monaten. Meine Fragen zu den Feuerschäden werden als überzogen empfunden. Ob mir denn nicht bekannt sei, dass viele Bäume ihre Stämme durch Absondern von feuerhemmenden Stoffen vor dauerhaften Schäden schützen und Samen erst nach Feuern in den dann aschegedüngten Boden abwerfen.

Nach Dienstschluss setzt mich ein Kollege bei der Uni ab. Vom Fitness-Studio im Parterre dringt laute Musik und verbrauchte Luft durch die weit geöffneten Fenster auf den Hof. Draußen sind es noch immer 24 Grad Celsius. Drinnen gehe ich an einer riesigen Fläche mit Laufbändern und anderen Fitnessgeräten vorbei, alle von Studentinnen und Studenten belegt. Hier pulsiert das Leben, ein ständiges Kommen und Gehen. Die Gesichter strahlen Freude am sportlichen Tun aus, keine Spur von Verbissenheit. Aber auch keine Spur von Dojo. An der Bar erhalte ich Auskunft: Erster Stock, durch die Handballhalle, links im Nebenraum. Ich bin mal wieder zu früh, das Kindertraining läuft noch, aber der Trainer erinnert sich, dass mein Besuch angekündigt wurde. Bei meinem einmaligen Besuch entfällt die sonst übliche Gastgebühr von drei Euro.

Der Judo Club wurde 1956 gegründet und wirbt für sich mit einem interessant aufgemachten farbigen Flyer (siehe Abbildung). Zusätzlich druckt der Club aktuelle Informationsblätter, deren jüngste Ausgabe wir alle zusammen am Ende des Trainings für den Versand falten werden.

Training um 7 Uhr morgens

Zum Training erscheinen fünf weibliche und zwanzig männliche Judoka. Dan-Training ist angesagt, aber das wird nicht so eng gesehen. Schließlich kommt eine bunte Mischung vom 4. Kyu bis 2. Dan zusammen: Japaner, Chinesen, Franzosen, Australier und vier Deutsche. Einige der Judoka sind jenseits der dreißig.

Beim Aufwärmtraining wird viel Wert auf Verbesserung der Flexibilität gelegt, oft mittels Partnerübungen. Wie schon in Singapur wird auf Kraftübungen nahezu gänzlich verzichtet. Großen Raum nimmt die Fallschule ein. Der Trainer hält die Gruppe ständig in Bewegung, treibt an und gibt den Rhythmus mit der Stoppuhr vor. Das verbraucht immens viel Kraft. Die innere Uhr ist der lokalen Zeit mittlerweile zwölf Stunden voraus, gewissermaßen Training um 7 Uhr morgens deutscher Zeit. Da brauche ich dann doch immer mal eine kleine Pause zwischendurch. Technik üben wir in Bahnen-Uchi-komi, zum Schluß noch acht Standrandori und fünf Boden Randori. Und wieder stellt sich dieses völlig entspannte Körpergefühl ein. Unter der Dusche erfahre ich, dass mein letzter Randori-Partner früher mit einem meiner australischen Kollegen zusammengearbeitet hat, dem ich am nächsten Morgen herzliche Grüße ausrichten werde. Ein anderer Partner bietet mir eine Mitfahrgelegenheit zum Hotel in der Stadt an. Mir steht der Sinn nach Abendessen in einem der vielen kleinen Restaurants in der Umgebung. Ich erwische sie alle beim Schließen, Punkt 22 Uhr, McDonald’s, Pizzeria, Löwenbräu. Unterwegs spricht mich ein Mensch an, er sei gerade aus der Haft entlassen worden und ihm fehle ein kleiner Betrag für die Eisenbahnfahrtkarte nach Hause. Er zeige mir auch gern die Entlassungspapiere und die Geldscheine, die er gespart habe. Schließlich begreift er nicht, dass ich den offensiv angebotenen Dankes-Joint ablehne, den er mir für meine zwei Euro-Spende drehen möchte. Statt Abendessen entscheide ich mich dann für zwei Bier und treffe in der Kneipe zufällig einen Arbeitskollegen. Wir unterhalten uns noch einige Zeit über diesen interessanten erlebnisreichen Tag.

 

Adresssen:

Singapore Judo Federation, Parga Singh, President
parga49@yahoo.com

Judo Federation of Australia Inc, Tina Ruhs
tina.ruhs@ausport.gov.au

University of New South Wales Judo Club
www.judo.unsw.edu.au

Trainer Warren Rosser
w.rosser@unsw.edu.au

 

Erschienen in: JUDO MAGAZIN; 01/03 (Offizelles Fachorgan des Deutschen Judo-Bunds; Originalartikel als pdf)

(Günther)


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Letzte Änderung: 07.06.2018